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Fachverlag und Nachrichtenagentur

Bemerkenswertes Vorwort des Emeritus George L. Spaeth zur 5. Auflage der Europäischen Glaukom-Leitlinien

GLAUCOMA Philadelphia – Im Sommer 2021 erschien die fünfte Auflage der Europäischen Glaukom-Leitlinien. Die neue Überarbeitung der „Terminology and Guidelines for Glaucoma“ der European Glaucoma Society (EGS )wurde durch ein bemerkenswertes Vorwort von George L. Spaeth eingeleitet, dem emeritierten Direktor des Glaucoma Service am Wills Eye Hospital in Philadelphia, USA, einem weltbekannten Ophthalmologen und Glaukom-Spezialisten. Er betont darin zunächst die Einzigartigkeit jeder Zeit, aber auch jedes individuellen Menschen. Verantwortungsvolles Handeln bestimme sich also aus der Angemessenheit in genau diesem Moment und in genau dieser Situation. Keine geschriebenen Richtlinien sind angemessen für jede individuelle Situation. Spaeth zitiert das Sprichwort „Was gut für die Gans ist, ist gut für den Gänserich“ und stellt klar, dass Ärzte und Ärztinnen damit oft einem Irrtum unterliegen. Medizinisch formuliert: „Normalbefunde sind gut, auffällige Befunde sind schlecht“. Das ist zu einfach und oft falsch. Gute Kliniker wissen, dass die Behandlung individuell angepasst werden muss, damit sie optimal ist. Sogenannte Normalbefunde geben eine grobe Orientierung, die manchmal auf Gruppen anwendbar, aber für Einzelpersonen häufig falsch ist. Ein Beispiel sei der Augeninnendruck (IOD). Ein normaler IOD von 15 mm Hg sei gut für einige und schlecht für andere, und ebenso sei ein abnormaler IOD von 30 mm Hg gut für einige und schlecht für andere. Mediziner würden geradezu mit dem Mythos von der Heiligkeit der Standardverteilungskurve erschlagen, so dass es schwierig werde, unabhängig und fallspezifisch zu denken. Darüber hinaus entscheiden Ärzte für ihre Patienten oft auf der Grundlage normativer Daten, die für den jeweiligen Patienten aber nicht relevant oder wichtig sind. Dass es dazu komme, sei nicht verwunderlich, so Spaeth, da Ärztinnen und Ärzte helfen wollen und daher standardmässig den scheinbar einfachen, sicheren (nicht-denkenden) Weg wählen, bei dem sie sich nicht für das Ergebnis verantwortlich machen müssen. Weiter führt er aus, dass selbstverständlich jemand zu entscheiden HABE, sonst würden wir in einer anarchischen Welt leben. Und weil keiner so viel weiss, wie er wissen muss, um angemessen zu handeln, wird Rat bei sogenannten „Experten“ gesucht. Experten hätten jedoch manchmal Recht und manchmal Unrecht. Spaeth erinnert daran, dass von Graefe 1860 die chirurgische Iridektomie für alle Glaukome empfahl, Elliot riet zu Senfpflastern zwischen den Schultern bei Glaukom, bei Becker basierte die Therapie auf tonographischen Befunden, Weve berichtete über hundertprozentigen Erfolg durch penetrierende Zyklodiathermie bei Glaukom, Lichter riet von der Laser-Trabekuloplastik ab, viele dachten Cypass wäre grossartig und die Forscher der Advanced Glaucoma Intervention Study gaben an, dass ein normaler IOD von etwa 12 mm Hg besser sei als einer von etwa 20 mm Hg. Alles sei falsch gewesen. Die Autoren der nun vorgelegten Leitlinien hätten es hervorragend umgesetzt, einen allgemeinen Rahmen bereitzustellen, in den die Augenärzte einzelne Beweisstücke einfügen können, um die Gültigkeit und die Bedeutung ihrer Beweiskraft zu bewerten. In dem sie dieses sehr sorgfältig erarbeiteten, hätten sie allen Ophthalmologen, von denen keiner einzeln entweder die Zeit oder die Fähigkeit hat, sich umfassend zu informieren, einen wertvollen Dienst erwiesen. In ihrer eigenen Tätigkeit prüften die Autoren, ob valide Informationen für die jeweils betrachtete Person relevant waren oder nicht. Dieser Prozess der Betrachtung der Relevanz sei immer wesentlich. Und diese Relevanz basiere auf dem jeweiligen einzigartigen Patienten, einzigartigen Arzt und der einzigartigen Situation. Spaeth betont, dass die einzige Richtschnur, die die Autoren diesbezüglich geben könnten, darin bestehe, alle ärztlichen Kollegen und Kolleginnen daran zu erinnern, die Relevanz für alle Patienten in allen Situationen zu bedenken – auch aus der Perspektive des Patienten. Noch wichtiger als der Service für die Ophthalmologen sei der Nutzen für die Patienten, der sich aus der sorgfältigen Anwendung dieser Richtlinien ergäbe. Spaeth fordert dazu auf, auch zu bedenken, dass Diagnosen allgemein sind und dass es innerhalb jeder Diagnose Unterschiede gibt. Was bedeutet zum Beispiel die Diagnose eines primären offenen Winkels? Manche Betroffene erblinden trotz sorgfältigster Behandlung schnell, andere behalten auch ohne Therapie ihr Augenlicht. Was bedeutet die Diagnose Chandler-Syndrom? Bei einigen funktioniert die Operation gut, bei anderen schlecht. Es sei daher zu beachten, dass eine Diagnose und Behandlung also nie auf einem Zustand, sondern auf eine Person ausgerichtet sei, wobei das Ziel das Wohlergehen dieser Person sei. Spaeth schliesst sein Vorwort zur Veröffentlichung der neuen europäischen Leitlinien im Juni 2021 beim BRITISH JOURNAL OF OPHTHALMOLOGY mit den Worten, dass die bisherigen Leitlinien der European Glaucoma Society international angewendet wurden und er begrüsst, dass die EGS wieder aktuelle, nützliche Informationen bereitstellt hat, die einen praktischen und inspirierenden Beitrag auf diesem Gebiet liefern. (bs)

Autor: Spaeth, GL. Korrespondenz: George L. Spaeth, BA, MD, Esposito Research Professor, Wills Eye Hospital/Sidney Kimmel Medical College/Thomas Jefferson University, Philadelphia, PA, USA. Studie: European Glaucoma Society Terminology and Guidelines for Glaucoma, 5th Edition. Quelle: Br J Ophthalmol. 2021 Jun;105(Suppl 1):1-169. doi: 10.1136/bjophthalmol-2021-egsguidelines. PMID: 34675001. Web: https://bjo.bmj.com/content/105/Suppl_1/1.long